© Sania Nascarella

Built with Berta.me


  1. Location: Ahoi, Lucerne

    Exhibition: Roadkill for Dinner 

  2. Roadkill for Dinner, 2024 Exhibition view

  3. Two Boars, 2024,
    104cm x 144cm, Polyester, MDF Frame
  4. A Shadow, 2024

    Sculpture; 82,5cm x 149cm x 30cm, Wood, Acrylic,

    The feeling of emptying dead people's houses, throwing away some artworks, some furniture, some pictures...

    The sculpture displays my reflection on the feeling of absence. A fireplace builded under the dimentions of my parents living room.

  5. Patchwork, 2024

    23cm x 33cm, Polyester, MDF Frame

  6. Exhibition Text

    Eleonora Bitterli, Juni 2024

    „Gestern war ich im Reich der Schatten“, notiert der Schriftsteller Maxim Gorki nach dem Besuch einer Filmvorführung der Gebrüder Lumière im Juli 1896 und meint damit die stummen, farblosen Szenen, die auf ihn einen geradezu gespenstischen Eindruck machten. Neben dem Film ist es aber auch das Raumerlebnis, das bei Gorki nachklingt. Immer wieder wurde der vom Projektorenlicht erhellte Kinosaal mit Platons Höhlengleichnis in Bezug gebracht. Das Bild der Höhle erzeugt dabei eine ambivalente Atmosphäre, die sowohl Geborgenheit als auch Abgründigkeit impliziert und uns, wie Sigmund Freud es formulierte, einen „anderen Schauplatz“ für die (un)heimlichen Phantasien, die sich nur auf bestimmten Bühnen abspielen dürfen, eröffnet.

    Mit der Wahl der Furrengasse 11 als Ausstellungsraum gelingt es Sania Nascarella, ihre Arbeiten gekonnt in ein Setting zu integrieren, das diesem „anderen Schauplatz“ entspricht. In seiner gesamten Wirkung bleibt der Raum in Roadkill for Dinner nicht bloss Display, sondern wird zu einer Bühne, zu einem Schauplatz, in dessen bestehende Strukturen sich die drei ausgestellten Arbeiten nahtlos einfügen. Die verlassene Kulisse an der Furrengasse 11 suggeriert eine Handlung, und es stellt sich die Frage: Was ist passiert? Wer sass im Auto, als der Unfall passierte? Diese Vorgeschichte wird in ein privates Setting getragen, das einen Ofen, Bilder an den Wänden und unvermeidlich die gegebenen Strukturen wie die Küchenzeile am Ende des Raumes umfasst.

    Trotz bewusster Annäherung und präzis berechneter Plazierung der Objekte im Raum, wirkt die Szenerie alles andere als heimelig: Das bürgerliche Ideal der eigenen vier Wände – der Wunsch nach sozialer Homogenität, nach Sicherheit, Privatheit und Naturnähe – bleibt unerfüllt. Die Stube wird zum unheimlichen Ort, das Vertraute zur Projektionsfläche für düster Verborgenes. Diese Ästhetik ist wesentlich von Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ geprägt, wobei Freud betont, dass dieses Empfinden stark an die Fiktion gebunden ist und im realen Leben so nicht erreicht werden kann.

    Sania Nascarella setzt die einzelnen Komponenten ihrer Arbeit gekonnt ein: In ihrem klar kalkulierten und alles andere als zufällig gestalteten Interieur arbeitet sie mit Codes, die auf das individuelle und kollektive Gedächtnis zurückgreifen. So evoziert beispielsweise das Tartan-Muster in der im Porträtformat konzipierten Arbeit Patchwork eine weit zurückreichende Bedeutungsgeschichte: Im Schottland des 16. Jahrhunderts symbolisierte das Muster die Clanzugehörigkeit, Mitte des 20. Jahrhunderts brachten Designer wie Burberry und Vivienne Westwood das Karomuster auf die internationalen Laufstege. Im Gegensatz zu den vergleichbar reduzierten Kompositionen der Moderne, etwa von Piet Mondrian, wohnt dem Patchwork eine starke Emotionalität inne. Es stellt sich die Frage, ob sehen überhaupt neutral sein kann.

    Gegenüber hängt die Arbeit Two Boars – zu erkennen sind zwei identische Wildschweine. Während das grosse Querformat an ein Landschaftsgemälde in einem bürgerlichen Setting erinnert, sind die Motive in ihrer Anordnung einem Wappen ähnlich. Doch die doppelte, nicht gespiegelte Präsenz des bedeutungsträchtigen Tieres lässt sich nicht entschlüsseln und stört die heimelige, vertraute Szene sowie die Sicherheit des Hauses zusätzlich durch die ihm zugeschriebenen Attribute.

    A Shadow ist das dritte Objekt in Sania Nascarellas Einzelausstellung. Es handelt sich um das 1:1 Modell eines Kamins, dessen Masse dem Vorbild im Elternhaus der Künstlerin entsprechen. Durch die starke Reduktion und das Weglassen der individuellen Ausführung (Ornamente, Farbgebung) ist A Shadow ein reiner Referent seines Gegenstandes und eine individuelle Projektionsfläche.

    Das Unheimliche wird als etwas Vertrautes, das im Prozess der Verdrängung entfremdet wurde, beschrieben. In Sania Nascarellas Ausstellung wird diese Verdrängung sichtbar, indem die Künstlerin die vertraute häusliche Szenerie durch den Einbruch des Unheimlichen transformiert. Roadkill for Dinner eröffnet den Besucher:innen ein tiefgründiges Narrativ, das die Grenzen zwischen Innen und Aussen, Vertrautem und Fremdem, Heimeligem und Unheimlichem individuell erfahrbar macht – und nachhallt, wie es Gorki am Tag nach seinem Kinobesuch passend formulierte.